01.09.2014 Davos – Santa Maria im Val Müstair

71 km, 1’777 Höhenmeter

Gut habe ich in der Höhenluft von Davos geschlafen. Zusammen mit den Schaffenden und Schülern stehe ich auf und geniesse das Frühstück bei tollen Gesprächen. Ich halte alle ein bisschen auf, denn die haben ja Termine – im Gegensatz zu mir. Herzlichen Dank noch einmal für das Bett und das feine Essen sowie die tollen Gespräche – es war schön bei euch und hat mir den Start sehr leicht gemacht.

Na gut, das Wetter wollte heute nicht mitspielen. Vom Wohnzimmer aus sehen wir bereits verschneite Gipfel und die Wolken hängen tief. Auch lässt der Regen nicht auf sich warten… Alle sind bereits aus dem Haus und ich packe gemütlich meine Sachen. Wenn ich nach draussen schaue, dann macht es einem wirklich nicht an aufs Velo zu steigen. Und doch zieht es mich nach draussen, ich will endlich los fahren. Um 9.00h habe ich das Velo gepackt und verlasse die warme und trockene Wohnung. Ich habe fast alles angezogen was ich bei mir habe, inklusive Kappe unter dem Helm, lange Handschuhe, Regenjacke und -hose etc. Vor dem Einbiegen auf die Passstrasse kaufe ich noch meinen Proviant für den Tag ein und nun geht es richtig los.

Schon bald hört der Regen auf und ich ziehe das Regenzeugs aus. Keine 200 Meter weiter schifft es wieder so richtig, so dass ich ohne Regenjacke ziemlich schnell durch und durch nass wäre. Also wieder anhalten und Regenjacke anziehen. Die Hose lasse ich dennoch in der Tasche, denn unter den Kleidern schwitzen, das ist nicht meine Lieblingsbeschäftigung. Bei 1’900 Metern über Meer fallen die ersten Schneeflocken. Oha, das kann ja noch heiter werden – es geht noch über 400 Höhenmeter rauf. Der Wind bläst mir in den Rücken, was einerseits natürlich beim Fahren hilft und ich andererseits die Kälte nicht direkt im Gesicht habe. Ich merke nämlich bei einer kurzen Strecke in den Wind, dass dies ein ziemlich beissender Wind ist.

Auf dem weiteren Weg nach oben überhole ich zwei Frauen auf dem Weg nach Venedig. Sie sind ziemlich langsam unterwegs und ich denke, sie sind sich solche Touren nicht wirklich gewohnt. Hut ab, dass die beiden trotz diesem Wetter die Strapazen auf sich nehmen. Die sind sicher noch eine Stunde länger am Aufstieg als ich. Ich mache ein bisschen Tempo, denn ich will so schnell wie möglich über den Pass und runter in wärmere Gegenden. Auf meinem Thermometer zeigt es auf der Passhöhe -1 Grad an. Schnell wieder Regenhose anziehen, eine zusätzliche Jacke und das obligate Pass-Foto, Ins Restaurant gehe ich nicht, denn wenn ich dort in der Wärme sitze, dann wird wohl das Weiterfahren noch viel härter werden. Doch diesen Entscheid bereue ich ziemlich bald. Bereits nach wenigen Kilometern muss ich anhalten und meine Finger wärmen. Es ist brutal kalt und mein Velo mit dem ganzen Gepäck nicht sehr stabil zum runter fahren, darum immer Bremsen ziehen. Das ist gar nicht so einfach, wenn man die Finger kaum mehr spürt. Ein paar Mal muss ich stoppen um die Klämmerchen zu wärmen aber siehe da, plötzlich die ersten Sonnenstrahlen. Bei 4 Grad auf meinem Thermometer jauchze ich in den Tag hinein, es wärmt mich schon fast auf. Doch zu früh gefreut, die restlichen Kilometer werden ganz schön brutal…

Ich muss mich immer mehr konzentrieren, die Kälte raubt mir einen Teil meines Verstandes – hab ich das Gefühl. Denn es kommt mir wirklich so vor, als wäre ich irgendwie im Delirium (vielleicht hat man solche Bewusstseinsstörungen bei gewissem Drogenkonsum?). Meine Zähne klappern und es schüttelt mich. Unten in Susch steche ich direkt ins Restaurant und ziehe einen trockenen Pullover an. Aber dieser und auch die heisse Schoggi kann mich von innen heraus nicht wärmen. Nach ca. 1 Stunde vergebliches Aufwärmen entscheide ich mich zur Weiterfahrt. Es braucht viel Überwindung wieder nach draussen zu gehen. Doch ein paar Sonnenstrahlen kämpfen sich durch die Wolkendecke und mir wird mit der Bewegung schnell mal wohlig warm.

In Zernez biege ich auf die Ofenpass Strasse und bei einer schönen Temperatur von 11 Grad geht es langsam den Berg rauf. Hie und da stoppe ich für ein Foto zu schiessen, die Gegend ist wunderbar, ich habe warm und es ist mir wohl. Ich komme gut voran, der Verkehr hat etwas zugenommen ist aber ok.

Schon bald einmal, mein Gerätchen zeigt 1’820 Meter über Meer, geht es wieder runter. War das jetzt schon die Passhöhe? Kein Schild und nichts… Aber das Gerätchen zeigt auch, dass der effektive Passübergang noch weit weg ist. Es gibt nicht wirklich viel demotivierenderes auf einer Passstrasse als wenn es vor der Passhöhe runter geht. Das heisst, diese Höhenmeter müssen wieder mühsam erarbeitet werden. Wären es 20 oder 30 Höhenmeter, dann wäre dies verkraftbar, aber deren 150 sind schon ein bisschen starker Tubak. Aber die Gegend hier ist einfach wunderschön – klar, die gehört ja auch zum Schweizer Nationalpark.

Eine weitere Stunde später bin ich schon fast auf der richtigen Passhöhe, als mich ein Berner Car überholt und ein paar Mal hupt. Ich weiss schon wieso, das kommt dann auf der Passhöhe. Ich habe noch das steilste Stück, ca. 1 km bei 10 % Steigung vor mir. Dieses stampfe ich in einem guten Tempo hoch, von den beiden unbeladenen Mountainbiker kann mir nur einer mit lautem Keuchen folgen. Oben erwartet mich die Überraschung – meine Eltern winken mir entgegen. Ich habe erst gestern erfahren, dass sie heute mit dem Car die genau gleiche Strecke fahren wie ich. Das war also der Car der hupte – und die Eltern und ich weiss nicht wieviele andere Senioren klatschen mir entgegen, gratulieren mir und stellen wirr durcheinander diese und jene Fragen. Ich freue mich riesig über das Interesse, aber etwas mehr Zeit und vor allem eine etwas geordnetere Fragereihenfolge würde das Ganze etwas vereinfachen. Aber es ist wirklich rührend wie die mir auf die Schultern klopfen und mich fotografieren.

Kurz später sitze ich alleine im Windschatten an der Sonne und verzehre endlich einmal meinen eingekauften Lunch. Zwei Pässe, einer davon im dichten Schneetreiben mit nur 3 Toastscheiben am Morgen, einer Banane, einer Nektarine und einem Snickers – darum knurrt mein Magen so fest dass die beiden Bikers welche ich überholt habe wahrscheinlich gemeint haben ich hätte ein Motörchen.

Die Abfahrt ist ereignislos aber wunderschön und gar nicht so kalt. In Santa Maria kaufe ich mir mein Abendessen ein und mache mich auf die Suche nach einem geeigneten Camping-Versteck. Doch im Dorf sticht mir ein Camping-Schild in die Augen – 500 Meter die Umbrail Passstrasse hoch und dort treffe ich auf diesen wunderschönen Berg-Campingplatz. Ich ziehe die heisse Dusche einem wilden Platz vor und schreibe mich hier ein. Zelt aufstellen, Duschen, Kochen, Essen, Abwaschen, Telefonieren und Schreiben. Das ist mein Abendprogramm – ich verkrieche mich fürs Schreiben und Telefonieren in den Schlafsack, draussen ist es ziemlich frisch… Es wird wohl eine kühle Nacht. „Buna notg“ (gute Nacht auf rätoromanisch 😉