05.09.2014 Dimaro – Le Prese im Poschiavo

92 km, 1’856 Höhenmeter

Heute will ich früh auf der Strasse sein, so läutet der Wecker um 6.45h, vor 8.00h kann ich den Campingplatz eh nicht verlassen, muss noch das Stromkabel zurückgeben. Es ist kalt und ich muss mich ziemlich überwinden aus dem Schlafsack zu kriechen. Während dem Packen esse ich mein Frühstück – viel ist es nicht, ich bin nicht der Frühstücker… Es geht alles ein bisschen langsam und so bin ich erst um 8.20 da wo ich vor 20 Minuten sein wollte. Auf dem tollen Veloweg fahre ich die ersten 10 Kilometer Fluss aufwärts an einer Bike-Downhil-Strecke und einem Kletterpark vorbei. Auch ganz tolle Pick-Nick Plätze stellt hier der Tourismusverband zur Verfügung. Eine schöne Gegend um einmal Urlaub zu machen. Nach noch nicht einmal 10 Kilometern macht es plötzlich – pfschhhh, pfschhhh, pfschhhh. Kein gutes Zeichen und ich weiss genau was das bedeutet. Anhalten, Vorderrad demontieren und Schlauch flicken oder wechseln. Ich will nicht viel Zeit verlieren, so wechsle ich ihn kurzerhand. Ein kleiner, spitziger Stein hat den Weg durch den Pneu bis zum Schlauch gefunden. Das ist der Verursacher des Schadens.

Keine 20 Minuten später setze ich meine Fahrt fort und es geht nun wieder auf der Hauptstrasse den Berg rauf. Die ersten paar hundert Meter drängen mich viele Lastwagen richtig an die Mauer rechts von mir. Auch Autos und Motorräder drängen an mir vorbei. Ich habe keine Freude und hoffe, dass es nicht so weiter geht. Meine Hoffnung bewahrheitet sich kurz danach und plötzlich bin ich alleine auf der Strasse – oder wenigstens fast. Es geht nun 13 Kilometer auf auf den Passso del Tornale. Es ist eine gute Steigung, etwas steiler als gestern auf den Mendelpass, aber dennoch sehr gut zum fahren und vor allem sehr regelmässig. Mitten im Anstieg sehe ich eine Festung vom 1. Weltkrieg. Hier mache ich einen Halt und gehe in den Eingang von wo eine Holztreppe untertags über viele Stufen hinauf führt. Meine Beine sind es sich ja gewohnt, sag ich mir, und nehme den Anstieg in Angriff. Oben habe ich eine tolle Aussicht und kann die Ruine kurz besichtigen. Hier wäre auch noch ein Museum, aber mir ist schon wieder kalt, denn ich bin vom Schwitzen ziemlich nass. Also schwinge ich mich wieder aufs Velo und strample dem Pass entgegen.

2 km vor der Passhöhe sieht man bereits auf den Pass – und was ich da sehe… Ich habe nicht gedacht, dass ich hier auf eine kleinere Stadt treffe. Eine richtige Retortenstadt, sogar mit Hochhäusern. Unglaublich und jammerschade für die Gegend hier. Aber es ist scheinbar ein grosses Skigebiet und da lassen es sich die Italiener natürlich nicht nehmen, auch ein paar Häuser hinzustellen. Auch wenn diese nicht wirklich schön sind. Ich fahre während fast einem Kilometer durch diese unwirkliche Stadt, anhalten reizt mich hier nicht. Erst auf der Abfahrt stoppe ich nach ein paar hundert Meter und ziehe ein paar warme Sachen an. Und kurz später muss ich schon wieder stoppen, denn nun wird es auch noch nass. Der Regen hat eingesetzt.

Die Fahrt runter ins Tal ist fast endlos, doch wie es sich später herausstellen wird, es ist heute nicht die längste Abfahrt. In Ponte di Legno stoppe ich bei einem schönen, kleinen Laden welcher einheimische Produkte verkauft. Ich kaufe Trauben, etwas zum Trinken und sonst noch was ein. Vor dem Laden auf einer Bank esse ich meinen Lunch, bevor es gut eingepackt wieder los geht. Ich habe während der Pause ganz schön kalt gekriegt und jetzt habe ich viele meiner Kleider angezogen. Insgesamt 700 der mühsam erkämpften Höhenmeter geht die Fahrt wieder runter ins Städtchen Edolo. Dort schaue ich wieder einmal auf die elektronische Karte und überlege mir, wo ich wohl heute hin soll. Es ist erst 14.00h und so habe ich noch viel Zeit etwas vorwärts zu kommen. So entscheide ich mich auf den Campingplatz in Le Prese zu fahren, bereits in der Schweiz und noch 44 Kilometer entfernt. Sollte ganz gut gerechnet in ca. 3 – 4 Stunden erreichbar sein. Ich nehme nicht an, dass es bis Tirano, der Stadt kurz vor der Schweizer Grenze, noch gross rauf geht. Also nichts wie los…

Schon die ersten paar Meter bringen mich zum Schwitzen – es geht rauf. Das kann aber kaum weit gehen, dann sollte es sicher flach das Tal hinein gehen. Und so will ich nicht langsamer werden, denn es wird ja dann wohl flacher. Das Tempo behalte ich, doch flacher wird es auf den nächsten 10 Kilometer nicht. Wie es sich herausstellt fahre ich tatsächlich noch einmal auf einen Pass rauf. Hätte ich gewusst, dass ich noch einmal 600 Höhenmeter rauf pedale, dann wäre ich wohl auf einem der Campingplätze geblieben, welche ich auf dem Weg gesehen habe. Ich fahre in Aprica durch, einem Städtchen oder schon fast einer Stadt wie zuvor auf dem Passo del Tonale. Auch das hier nennen sie einen Pass und tatsächlich bin ich wieder auf über 1’200 Höhe. Der Regen hat mich wieder und ich ziehe alles an was ich habe. Und nun geht es runter wie ich es noch kaum mal erlebt habe. Ich sehe in das gaaaanz tief unten liegende Tal und ich kann kaum glauben, dass ich so weit hoch gekommen bin respektive alles wieder runter düsen muss.

Im Nassen zu fahren ist nicht angenehm und ich bin froh, als ich den Talboden erreicht habe. Nun noch ein bisschen vor dem Wind und vor allem hier unten ohne Regen nach Tirano. Doch bereits an der Schweizer Grenze regnet es wieder und der Zöllner schaut mich an als würde er mich auf gar keinen Fall beneiden. Ich fülle dort noch meine Wasserflaschen und mache mich auf die letzten Kilometer mit einer ziemlichen Steigung. Ich habe vorhin nicht schlecht gestaunt, als mir auf der Strasse eine Zugkomposition der Rhätischen Bahn entgegen gefahren ist. Nicht gewusst, dass die bis hier hin fahren. Und so kommt mir plötzlich die Idee, als ich den Bahnhof sehe, ich könnte ja bei diesem Regen die einfachere Variante auswählen. Kurz auf den Fahrplan geschaut habe ich mich dann doch nicht als Weichei hinreissen lassen und fahre weiter. Doch weit komme ich nicht – ein lauter Knall wie aus einer Pistole, und ich habe einen Plattfuss hinten und was noch viel schlimmer ist einen zerfetzten Pneu.

Einen Schlauch hätte ich noch, aber einen Pneu führe ich nicht mit mir. Also zurück zum Bahnhof und doch die Weicheier-Variante nehmen. Ich fahre mit dem Zug 20 Minuten das Tal rauf und steige in Le Prese aus. Im Dorfladen kaufe ich mein Abendessen ein und frage, ob es in der Nähe einen Veloshop gibt. Nein, da müssen sie nach Poschiavo… Der italienische Kunde neben mir hört zu und sagt in bestem Deutsch „…ich bin auch Fahrradfahrer, früher war ich viel auf Touren in Lybien, Algerien, Syrien etc. und ich habe in meiner Garage noch genügend Pneus für dich. Komm mit, ich gebe dir einen.“ Und so steige ich zu seinen 3 Kindern und seiner Frau ins Auto und wir fahren ca. 300 Meter zu seinem Haus. Er hat mir tatsächlich einen Pneu und als Bezahlung reicht ein Handschlag – „ich helfe dir, und irgendwann wird jemand anderes mir helfen“. Seine Frau gibt mir noch eine Nektarine mit auf den Weg und schon sind sie wieder unterwegs. Er hat sich noch fast entschuldigt, dass er mir mit dem Pneuwechsel nicht helfen kann, sie fahren nach Italien… Welch ein Glück und soooo nette Leute!

Vor dem Laden wechsle ich den Pneu bevor ich bei strömendem Regen auf den Campingplatz fahre. Alles ist unter Wasser und ich suche mir den besten Platz aus, einfach dort wo ein ganz flacher See ist und nicht schon Sumpf. Zelt aufstellen, duschen und rein ins Zelt hüpfen. Oje, das ausgeliehene Zelt ist nicht ganz dicht, es tropft in meinen Fussbereich. Ich bastle etwas zusammen, so dass es nun wenigstens in mein Badetuch tropft und nicht auf meinen Schlafsack… Hoffentlich wird es morgen besser, ansonsten werde ich wohl noch einmal die Weichei-Variante bevorzugen. Wir werden es dann sehen…